Grundbegriffe

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Die nachfolgende Einleitung aus Humanismus Grundbegriffe (Hrsg.)  Hubert Cancik, Horst Groschopp, Frieder Otto Wolf. De Gruyter.  (humanismus-grundbegriffe.de)  findet sich Original online unter http://www.humanismus-grundbegriffe.de/einleitung

Einleitung:

1. ‚Humanismus‘ ist eine kulturelle Bewegung, ein Bildungsprogramm, eine Epoche (Renaissance), eine Tradition (‚klassisches Erbe‘), eine Weltanschauung, eine Form von praktischer Philosophie, eine politische Grundhaltung, welche für die Durchsetzung der Menschenrechte, ein Konzept von Barmherzigkeit, das für humanitäre Praxis eintritt.

‚Grundbegriffe‘ sind die einfachen und allgemeinen Begriffe, welche diese verschiedenartigen Bestandteile erfassen, ihren Zusammenhang verdeutlichen (‚offenes System‘) und ihren Nutzen für die Erkenntnis gegenwärtiger Probleme in Medizin, Ethik, Recht, Politik und Ökonomie darstellen.

Der Band enthält einen systematischen Teil, die alphabetisch angeordneten Grundbegriffe von Anthropologie bis Zweifel, und bringt, soweit möglich, Hinweise auf Kunst und Literatur, Film und Architektur. Denn Bilder, Bauten, Räume sind Dokumente des Humanismus, gleichen Ranges mit Texten, Personen und Theorien. Die Fähigkeit der langsamen, intensiven ‚Wahrnehmung‘ (Aisthesis) und der Empathie (‚Einfühlung‘) kann durch die Pflege der entfalteten Sinnlichkeit (‚musische Bildung‘) gestärkt werden.

Hierbei werden die verschiedenen Richtungen und Institutionen der humanistischen Bewegung in Geschichte und Gegenwart im Umriss sichtbar gemacht und die neuen Felder und Aufgaben angedeutet, welche der Humanismusforschung durch die Entwicklung der modernen Medizin, der Menschenrechtspolitik und der Geschlechterstudien, der digitalen Revolution und der Globalisierung entstanden sind. Das humanistische Erbe aus Antike, Renaissance und Aufklärung ist kritisch mit diesen neuen Anforderungen zu vermitteln. Dabei werden die historischen Leistungen und die Katastrophen von Humanismus erinnert, seine Möglichkeiten und Defizite bedacht, seine Illusionen und Utopien.

Postkolonialismus, Kritik des Eurozentrismus und Ergebnisse der interkulturellen Humanismusforschung gehören in den Horizont dieses Versuchs. Humanismuskritik wird beachtet, praktischer Antihumanismus wird als solcher kenntlich gemacht.

2. Die wenigen systematischen Artikel und die achtunddreißig Stichworte, die in diesem Band zusammengestellt sind, ersetzen nicht ein ‚Lehrbuch‘ oder eine ‚Enzyklopädie des Humanismus‘. Der Band bietet keine vollständige und widerspruchsfreie Theorie der humanistischen Bewegung oder der humanitären Praxis, keine Geschichte des europäischen, geschweige denn des außereuropäischen Humanismus, keine Wissenschaftsgeschichte der Humanismus-Forschung. Aber er bietet Hinweise und Beiträge zu den genannten Gebieten, macht im Kleinformat das Gerüst von ‚Lehrbuch‘ und ‚Enzyklopädie‘ sichtbar und zeigt die Notwendigkeit von Ergänzungen der Theorie und der Exempel und von Erweiterung nach Zeit und Räumen.

Der systematische Teil stellt mit unterschiedlichen Ansätzen und Perspektiven die zentralen Begriffe und Gebiete der Humanismusforschung zueinander. Die Artikel des alphabetischen Teils bieten eine Auswahl der Begriffe, die (a) den Gegenstand ‚Humanismus‘ und ‚Humanitarismus‘ konstituieren und (b) diesen Gegenstand mit den Human-, Kultur-, Gesellschafts- und, soweit möglich, Naturwissenschaften verbinden. Dies sind ‚Grundbegriffe‘ im engeren Sinne, z. B. Bildung bzw. Anthropologie. Die Artikel bieten (c) Skizzen wichtiger Epochen der humanistischen Bewegung – z. B. Antike, Renaissance, Aufklärung – und Felder humanitärer Praxis – z. B. Medizin/Menschenheilkunde, Seelsorge.

Bei allen Grundbegriffen und Gebieten, den klassischen wie den freidenkerischen Traditionen, die in diesem Band zusammengestellt werden konnten, handelt es sich um Auswahl, Exempel, Teilstücke eines unabgeschlossenen Systems. Ganz ausgeschlossen wurden Personenartikel. Zu gering gewichtet sind die Lebens-, Gender- und Naturwissenschaften, die Alltags- und die neue Medienwelt und die Bereiche des interkulturellen Humanismus – und dies in einer Zeit explodierender Zunahme des Wissens und der technischen Realisierungen in der digitalen Revolution der letzten Jahrzehnte.

Die Selbstdarstellung des zeitgenössischen Menschen europäisch-amerikanischer Prägung findet sich auf den Plaketten der Raumsonden Pioneer 10 und 11 und den Datenplatten der Sonden Voyager 1 und 2.

 

Die Lebensdauer dieser Sonden wird auf 500 Millionen Jahre geschätzt. Die Botschaften haben inzwischen den interstellaren Raum erreicht. Ein Absender ist angegeben, man rechnet mit Antwort.[1] Ein kritischer, illusionsloser und zukunftsfähiger Humanismus muss sich in diesen Horizonten von Raum und Zeit einrichten.

Bei diesen grandiosen Aussichten dürfen die Katastrophen des Humanismus nicht vergessen werden – die unaufhörlichen Ausbrüche von Antihumanismus und Rassismus, die Genozide des 20. Jahrhunderts, die Shoa, der Kolonialismus und seine anhaltenden Folgen, das unerhörte Auseinanderklaffen von Armut und Reichtum, die Folgen von Kriegen und Vertreibungen.

3. Die Auswahl der Gebiete, Begriffe und systematischen Entwürfe, die in diesem Band vorgelegt werden, ist aus den jeweils besonderen Ansätzen und Perspektiven von Philosophie, Kulturwissenschaft und Zeitgeschichte, klassischer Altertumswissenschaft und Religionswissenschaft gewonnen. Die lose Verbindung dieser verschiedenen Ansätze und Traditionen des ‚alten‘ klassischen mit den ‚neuen‘ Formen des organisierten Humanismus gibt der humanistischen Bewegung Gewicht und Energie.

Der klassische, bürgerliche Humanismus orientiert sich kritisch an den wissenschaftlichen, philosophischen, künstlerischen, rechtlichen Errungenschaften der griechischen und römischen Kultur. Die Schwerpunkte sind das Bildungswesen, Sprache, Literatur und Kunst, Religion und Recht und die Geschichte mit ihren langsamen Prozessen von Humanisierung. Für die deutschsprachigen Länder ist die Grundlage dieses pädagogischen, ‚idealen‘ Humanismus die aufgeklärte Philosophie, Pädagogik und Altertumswissenschaft des 18. und 19. Jahrhunderts; hier seien nur die Namen Johann Gottfried Herder, Friedrich Immanuel Niethammer, Friedrich August Wolf zu einer ersten Orientierung genannt.

Wie die Menschen in ihren Gesellschaften leben, mit ihren Gemeinschaftsbeziehungen, aber auch Arbeits- und Klassenteilungen, Erfahrungen, Hoffnungen, Wünschen, Nöten, Freuden und Leid, ihren Sexualitäten, ihren Ökonomien, Staaten, Verwaltungen und Nachbarschaften – all dies nennen wir Kultur. Hinzu kommen die Vorstellungen von all dem und die Theorien und Religionen und Weltanschauungen, die, darauf bezogen oder abgehoben davon, gebildet werden, in Freiheit oder unter Tyrannei. Menschen selbst formen Bilder von sich, ihrer Geschichte und ihren Utopien.

Kulturwissenschaft hat sich nach dem großen ,cultural turn‘ in den 1970er Jahren vielen dieser Felder gewidmet, kleinteilig und großformatig. Inwiefern darin Humanismus vorkommt und was dies jeweils und für wen bedeutet – dazu steht die Forschung erst am Anfang, schon weil es nahezu keine akademische ,Humanistik‘ gibt. So kann auch der ,Kulturteil‘ in diesem Handbuch, der in allen Beiträgen zu finden ist, nur aufscheinen, aber andeuten, dass die Zukunft des Humanismus abhängt von den Menschen, die ihn wollen, ihn kultivieren und sich organisieren, um Teile davon zu ihrer Aufgabe zu machen. Die ,Freidenkerei‘ z. B. war und ist eine dieser humanistischen Bewegungen. Über ihren Stellenwert in Geschichte und Gegenwart – ihren Humanismus – muss gestritten werden.

In der Philosophie gibt es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gute und schlechte Gründe dafür, sich nicht mit der Problematik des Humanismus zu befassen. Diese sind nicht einfach auseinander zu halten. Sie reichen von der Scheu vor ‚weltanschaulichen‘ oder ‚politischen‘ Stellungnahmen über die Tendenz zum Rückzug auf metatheoretische Reflexionen – in analytischer oder in historisierender Verfahrensweise – bis hin zu der These, dass Philosophieren keinen Grund dafür habe, sich angesichts der Alternative von Humanismus oder Zynismus zu entscheiden.

Und sie haben jedenfalls dazu geführt, dass es – noch weniger als in anderen Feldern philosophischer Debatten – ausgearbeitete Diskussionsstände gibt, auf die ein Wörterbuch zurückgreifen könnte. Hinzu kommt noch, dass es angesichts der offensichtlich heuchlerischen Hohlheit des bildungsbürgerlichen Elite-Humanismus, wie sie sich in der Nacht des 20. Jahrhunderts gezeigt hat, kritisch Philosophierende es mehrfach für nötig gehalten haben, unter dem Titel eines Anti-Humanismus für humane Positionen einzutreten. Dennoch hat sich bei der Arbeit an den ‚Grundbegriffen‘ gezeigt, dass ein moderner praktischer Humanismus auch in philosophischer Hinsicht auf eine reiche und substanzielle Geschichte zurückgreifen kann, deren weitere Aufarbeitung lohnend zu werden verspricht.

Die Herausgeber

[1] Carl Sagan et al. (1980): Signale der Erde. Unser Planet stellt sich vor. München. Übersetzt von Willy Thaler aus dem Englischen: Murmurs of Earth. The Voyager Interstellar Record. London 1978.