Der Spiegel. Soziologen-Hype Die Rückkehr der Taxifahrer. Warum sitzen heute überall Soziologen und erklären die Welt? Von Tobias Becker 01.10.2020, aus DER SPIEGEL 41/2020 .... Heinz Bude, Andreas Reckwitz, Armin Nassehi, Aladin El-Mafaalani, Hartmut Rosa, Jutta Allmendinger – das sind heute die öffentlichen Intellektuellen des Landes. https://www.spiegel.de/kultur/soziologen-hype-frueher-taxifahrer-heute-welterklaerer-a-00000000-0002-0001-0000-000173324658 Die Coronakrise hat in den vergangenen Monaten gezeigt, wer wirklich systemrelevant ist: Ärztinnen und Pfleger, Supermarktkassierer und Erzieherinnen. Und Soziologen. Nun gut, auf den Balkonen hat niemand für sie geklatscht. Aber während die einen heilen und versorgen, während die Politiker nicht müde werden, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu beschwören, da wird das Gefühl, dass ebendieser Zusammenhalt schwindet, immer stärker. Irgendetwas passiert, jeder spürt das, jeder erfährt das, und jeder wüsste gern: Was ist eigentlich los. Man muss kein Zyniker sein, um festzustellen: Neben den Toilettenpapierfabrikanten sind Soziologen die größten Krisengewinnler. Sie beraten Politiker, sie geben Interviews in den großen Zeitschriften und Zeitungen des Landes, sie sitzen in Talkshows und auf Podien in Stadttheatern, Literaturhäusern, Sozialzentren, sie blicken einem auf YouTube entgegen. Heinz Bude, Andreas Reckwitz, Armin Nassehi, Aladin El-Mafaalani, Hartmut Rosa, Jutta Allmendinger – das sind heute die öffentlichen Intellektuellen des Landes. Der Spiegel (2020.10.01 Soziologen-Hype ). " doc 2020.10.01 Der Spiegel. Soziologen-Hype Die Rückkehr der Taxifahrer. Warum sitzen heute überall Soziologen und erklären die Welt? Von Tobias Becker 01.10.2020, aus DER SPIEGEL 41/2020 .... Heinz Bude, Andreas Reckwitz, Armin Nassehi, Aladin El-Mafaalani, Hartmut Rosa, Jutta Allmendinger – das sind heute die öffentlichen Intellektuellen des Landes. hier erwähnte ForscherInnen Bude, Heinz 1954- Prof. Makrosoziologie Uni Kassel http://de.wikipedia.org/wiki/Heinz_Bude Reckwitz, Andreas 1970- Starsoziologie Prof. Uni Berlin https://de.wikipedia.org/wiki/Andreas_Reckwitz Nassehi, Armin 1960- seit 1998 Prof Soz. in MÜ https://de.wikipedia.org/wiki/Armin_Nassehi El-Mafaalani, Aladin 1978- https://de.wikipedia.org/wiki/Aladin_El-Mafaalani Rosa, Hartmut 1965- Prof. Soziologie zu Time and Society in Jena https://de.wikipedia.org/wiki/Hartmut_Rosa Allmendinger, Jutta 1956- Prof. Mü Starsoziologin https://de.wikipedia.org/wiki/Jutta_Allmendinger
Streng genommen ist die Soziologie natürlich nicht erst seit März so präsent, sondern schon seit einigen Jahren, seit der Flüchtlingskrise 2015 vielleicht, als der Rechtspopulismus immer mehr Menschen infizierte.
"Die Soziologie kehrt wieder, weil das Publikum den Eindruck hat, dass die Leute auf der Brücke nicht wissen, wo es langgeht", sagt der Kasselaner Welterklärer Heinz Bude. Er war Teil des Beraterstabs im Innenministerium, als die Regierung ihre Corona-Strategie festlegte. Budes aktuelles Buch: "Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee".
"Eine Gesellschaft, die sich selbst krisenhaft entwickelt, fragt mehr Soziologie nach", sagt der Berliner Welterklärer Reckwitz. Er ist der Spitzensoziologe, den die Spitzenpolitiker lesen, Friedrich Merz und Christian Lindner, Lars Klingbeil und Robert Habeck. Reckwitz' aktuelles Buch: "Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne".
"Die Soziologie kann eine Gewinnerin der Krise sein", sagt auch der Münchner Welterklärer Nassehi, aber die Soziologie dürfe nicht den Fehler machen, "einfach die Unzufriedenheit der Gesellschaft mit sich selbst zu wiederholen". Sie müsse eigensinnige Perspektiven liefern. Nassehis neues Buch heißt "Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft". Er ist seit wenigen Tagen Fellow der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, was nicht unbedingt sein natürliches Polit-Habitat ist. Seine Aufgabe: im Wahljahr für intellektuelle Unruhe sorgen.
In den Sechziger- und Siebzigerjahren galt die Soziologie schon mal als Leitwissenschaft. Damals konnte man durchaus auf die Idee kommen, dass die deutsche Hochschulsoziologie keine Wissenschaft betrieb, sondern Politik. Dass sie keine Akademiker ausbildete, sondern Revolutionäre: Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit, Bernd Rabehl, Hans-Jürgen Krahl – sie alle studierten Soziologie, sie alle waren Figuren der 68er-Revolte.
Für den Mythos des Fachs war das genauso entscheidend wie das öffentliche Wirken der legendären Soziologieprofessoren der Sechziger- und Siebzigerjahren: allen voran die Vordenker der Kritischen Theorie wie Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse oder deren berühmte Nachfolger Jürgen Habermas und Oskar Negt. Die Soziologie soziologisierte damals ihre Nachbarfächer, die Germanistik, die Geschichte, die Kriminologie. Sie infizierte die Sprache der Gebildeten, "Sozialisation" und "Distinktion", "System" und "Schicht", "Geschlechterrollen".
Doch der Mythos verblasste rasch und das Fach hatte bald den Ruf, nur noch revolutionär gesinnte Taxifahrer auszubilden. Soziologen drangen nun kaum noch durch in gesellschaftlichen Debatten. Das lag daran, dass sie immer mehr Nischen erforschten, aber den Blick für das große Ganze verloren. Und vielleicht auch daran, dass sie gar nicht mehr so recht durchdringen wollten. "Die zunehmende stilistische Unzugänglichkeit führte zur Abkapselung von einer breiten Leserschaft", sagt der Kasselaner Soziologe Oliver Neun, der zur öffentlichen Wirkkraft der Soziologie forscht. Das Programm von Soziologenkongressen sei gezielt so zugeschnitten worden, dass es weniger Publikum erreichte. Ein liberaler Soziologe wie Ralf Dahrendorf, lange ein Star des Fachs, galt manchem Kollegen nun als zu unwissenschaftlich, um dort noch zu sprechen.
Die Wendejahre erklärten dann Historiker, das "Ende der Geschichte" und den "Kampf der Kulturen" riefen Politikwissenschaftler aus, den Umbau des Sozialstaats und die Wirtschaftskrisen analysierten Wirtschaftswissenschaftler. 2005 warnte der Soziologe Ulrich Beck, die Soziologie habe als Leitwissenschaft abgedankt: "Überkonzentration auf die Methode oder Theorie führt in der Soziologie wie in der Liebe zu beklagenswerter Impotenz."
Und nun das Comeback.
Reckwitz glaubt, dass es wieder mehr Kollegen gebe, die die großen Fragen behandeln, dass es weniger Berührungsängste mit Medien gebe, "das Ideal des Elfenbeinturms haben wir nicht mehr". Hinzu kommt, dass die Konkurrenz schwächelt: "Die Wirtschaftswissenschaft hat nach der Finanzkrise an Nimbus eingebüßt."
Auf dem in diesem Jahr nur digital abgehaltenen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie hat der in Osnabrück lehrende El-Mafaalani den Preis für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit der Soziologie bekommen.
Mafaalanis Bestseller "Das Integrationsparadox" hat die Migrationsdebatte kräftig durcheinandergewirbelt. Seine These: Integration funktioniere besser als früher, was paradoxerweise nicht zu weniger Konflikten führe, sondern zu mehr. Auch sein neues Buch "Mythos Bildung" lebt von solchen Gedankenspielen: Mehr Bildung könne zu mehr sozialen Problemen führen, weil sie die Spaltung der Gesellschaft verschärfe. Das Buch präsentierte er zusammen mit Grünenchef Robert Habeck, der ihn zu "einem der schlausten Soziologen" des Landes erklärte.
Dass zwei der interessantesten deutschen Soziologen Nassehi und El-Mafaalani heißen, der eine mit persischen Wurzeln, der andere mit syrischen, muss kein Zufall sein. Viele ihrer historischen Vorgänger waren privilegierte Mitglieder der Gesellschaft – und doch hatten sie eine Außenseiterposition. Norbert Elias, Georg Simmel, Leo Löwenthal, Herbert Marcuse, Max Horkheimer waren Juden. Der Franzose Pierre Bourdieu war Bauernsohn, Michel Foucault schwul. "Gesellschaft lässt sich am besten beschreiben, wenn man nicht richtig dazugehört", sagt El-Mafaalani.
Seine Eltern, ein Arzt und eine Psychologin, wanderten 1971 aus Syrien nach Deutschland ein. In seiner Familie habe ein "anderer Modus von Sozialität" geherrscht, konservativer als bei seinen deutschen Freunden, auch emotionaler. Gesprochen wurde Arabisch. Sein Freundeskreis bestand aus Migrantenkindern und deutschen Gymnasiasten. Mit den einen hörte er Hip-Hop, mit den anderen Punk. Eine perfekte Soziologenschule.
El-Mafaalani lernte schon damals, die Selbstgewissheiten des jeweiligen Milieus infrage zu stellen, den eigenen Blick zu reflektieren. "Ich habe so viele verschiedene Selbstverständlichkeiten erlebt, dass ich instinktiv wusste: Selbstverständlich ist nichts."
In den Neunzigern schickte ihn das Kreiswehrersatzamt Recklinghausen in eine Kaserne in Sachsen-Anhalt. "Ostdeutschland in den Neunzigerjahren: Das war ein Erlebnis", sagt er und lacht. "Damals wurde ich das erste Mal überhaupt Deutscher genannt und zwar Westdeutscher, Scheiß-Westdeutscher."
Die Stunde der Soziologie schlägt immer dann, wenn sich etwas verändert in der Gesellschaft. Zurzeit scheint sich die Gesellschaft so schnell zu verändern wie selten zuvor, die Taktung der Krisen wird immer kürzer: die Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008, die Flüchtlingskrise seit 2015, dazu die Krisen des Sozialstaats, der Volksparteien, der Demokratie, des Klimas. Und natürlich all die Identitätskrisen, in die wachsende Freiheiten die Menschen gestürzt haben: Wer bin ich, und wer will ich sein? Wie will ich wahrgenommen werden? Institutionen wie Kirchen, Parteien und Gewerkschaften verlieren an Einfluss, die Vielfalt an Kulturen und Lebensstilen wächst. Und über allem dräut die digitale Disruption.
"Der allgemeine Eindruck ist, wir können nicht einfach weitermachen wie bislang, die Zukunft droht, sie verspricht nichts mehr", sagt Bude.
Zeitdiagnostiker sind für die breite Öffentlichkeit die Soziologenstars, innerhalb der Fachwelt aber sind sie nicht unumstritten. Manche dort halten Zeitdiagnosen für überpointiert und alarmistisch, für intellektuell unseriös gar, sie kritisieren die fehlende Datengrundlage. Der Erfolg der einen triggert den Neid der anderen, die alte Methodendiskussion wird wieder aufgewärmt: Messen Soziologen zu wenig und deuten zu viel? Hat die öffentliche Soziologie einen zu laxen Umgang mit wissenschaftlichen Standards?
Es kursiert auch das Vorurteil, dass manche der Stars nur Zusammenschreiber sind, die selbst keine eigene Forschung betreiben, sondern zu Hause am Schreibtisch an theoretischen Großentwürfen zimmern.
Der Leipziger Soziologe Holger Lengfeld ist Vorsitzender der Akademie für Soziologie, die sich 2017 im Streit von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie abspaltete, um analytisch-empirische Forschungsansätze stärker zu fördern. Mehr als hundert Professoren gehören dazu. "Wir haben in Interviews wissenschaftliche Skrupel, weil wir für viele Zeitdiagnosen keine Belege haben", sagt Lengfeld. Viele Interviews von Kollegen hingegen erscheinen ihm spekulativ, manche auch politisch motiviert. "Offenbar gibt es viele Zeitdiagnostiker, die wollen die Gesellschaft nicht nur analysieren, sondern nach ihren Vorstellungen verändern."
Ein Problem entsteht immer dann, wenn Soziologen allgemeine Annahmen, die ihnen in den ideologischen Kram passen, in den Medien mit derselben Autorität vortragen dürfen wie die Ergebnisse empirischer Detailforschung.
Jutta Allmendinger beispielsweise, unbestritten eine der Topsoziologinnen des Landes, saß während des Corona-Lockdowns in der Talkshow "Anne Will" und beklagte einen Rollback in der Gleichstellung, "eine entsetzliche Retraditionalisierung". Das deckte sich mit netzfeministischen Thesen, die in jenen Tagen auf Twitter die Runde machten, von eigener Forschung aber war es eher nicht gedeckt. Das Land werde bestimmt drei Jahrzehnte verlieren, prognostizierte Allmendinger, "der Knick in weiblichen Karrieren wird heftiger ausfallen und die Abhängigkeit der Frauen von ihrem Partner zunehmen".
Nun ist das mit Prognosen immer so eine Sache, Soziologen erforschen die Gegenwart, nicht die Zukunft. Inzwischen deuten mehrere Studien darauf hin, dass die Lasten des Lockdowns unter Paaren relativ paritätisch aufgeteilt wurden.
Die Soziologie sei zu oft "Mitspielerin" in der politischen Debatte, sagt Nassehi. "Sie sieht sich selbst oft als Agentur der Kritik, durchaus auch im Sinne fast einer Fetischisierung von Kritik. Sie bedient ein Bedürfnis nach den großen Sätzen, nach der kritischen Attitüde."
Viele Debatten wirken aktuell wie Kulturkämpfe zwischen den Milieus. Soziologen laufen Gefahr, sich von einer Seite vereinnahmen zu lassen. Nassehi aber verweigert sich: Statt die Komplexität der Probleme zu reduzieren, erhöht er sie. Nassehi, ein Systemtheoretiker, glaubt nicht an einfache Lösungen. Für ihn ist die Soziologie eine Art Spielverderberin: "Die Soziologie verstehe ich als skeptische Wissenschaft, die den Eigensinn und die Eigendynamik, die Trägheit und Musterhaftigkeit ihres Gegenstandes sehr ernst nimmt."
In den Sechziger- und frühen Siebzigerjahren war die Soziologie überzeugt davon, Antworten geben zu können, heute geht es führenden Vertretern des Fachs eher darum, Fragen zu stellen, Zweifel zu säen, Ungewissheit zu verbreiten.
Reckwitz rückt das linksgrüne Milieu der liberalen Kulturkosmopoliten ins Zentrum seiner Analyse, aber so, wie er das tut, kann sich das linksgrüne Milieu kaum gebauchpinselt fühlen. Die Angehörigen der neuen Mittelklasse, die Reckwitz beschreibt, leben ihr Leben nicht, sie führen es auf, stets auf der Suche nach einzigartigen Dingen und außeralltäglichen Erlebnissen, nach der Aura des Besonderen. Sie schauen herab auf die Lieschen Müllers und Max Mustermanns, die Otto Normalverbraucher mit Sehnsüchten nach DIN-Norm.
Bude bekennt: "Wir brauchen keine Soziologie, die das eigene Milieu bedient und ihre Agenda nur bestätigt." Er beobachtet seit einigen Jahren, dass auch Politiker nicht mehr nur mit denen reden, "die zum eigenen Verein gehören". Politiker aus jeder politischen Partei seien heute bereit, jemanden wie ihn um Rat zu fragen. "Die Aufgabe der Soziologie heute ist es, die Zukunft zu öffnen."
Ging es in den Sechzigerjahren für manche Soziologen darum, den Diskurs anzuheizen, dem "eindimensionalen Menschen", so der Titel eines Klassikers von Herbert Marcuse, den Ausbruch aus einer tendenziell totalitären Gesellschaft zu ebnen, geht es nun eher darum, das Erregungsfieber des Internets abzukühlen, die Selbstgewissheiten der jeweiligen Lager zu irritieren und so die Debatte zu versachlichen.
"Die krasseste Kritik für meine Bücher habe ich von links bekommen", berichtet El-Mafaalani. Von jenen, die dachten, der Migrantensohn müsse doch in ihrem Team spielen.
El-Mafaalani aber beharrt darauf, stets aus verschiedenen Perspektiven auf die Phänomene zu schauen.
Nur so bewahre man den Überblick.